Länger tränken, länger leben
Die optimale Nutzungsdauer von Milchkühen liegt bei vier bis sechs Laktationen. Die Realität sieht dagegen anders aus. Ein intensiveres Fütterungsregime nach Vorbild der Natur könnte der Schlüssel zum Wandel sein.
Kühe verlassen bei uns im Schnitt nach 2,6 Laktationen den Bestand und damit schon nach etwa der Hälfte ihrer beabsichtigten »Karriere«. Die Hauptgründe für die verfrühten Abgänge sind schon seit den letzten drei Jahrzehnten gleich: Unfruchtbarkeit, Euter- und Klauenprobleme. Immer wieder wurde versucht, wissenschaftlich nachzuvollziehen, warum Kühe mit zunehmender Laktationsanzahl anfälliger gegenüber diesen drei Hauptproblemen in der modernen Milchviehhaltung werden. An erster Stelle wird vor allen Dingen von Seiten der Hauptkritiker der modernen Milchproduktion die hohe Milchleistung als der »Haupttreiber« beklagt. Die Diskussion ist jedoch nicht neu: Es gibt jedoch Studien, die bis ins Jahr 1929 zurückreichen, bei denen damals schon bei einer Milchleistung von unter 3 000 kg im Jahr die Leistung als Hauptgrund für gesundheitliche Probleme und verfrühte Abgangsneigung verantwortlich gemacht wurde.
Die Aufzucht als Basis
Kaum jemand hat sich jedoch bis heute mit der Kälberaufzucht als Basis für ein längeres Kuhleben beschäftigt. Im Folgenden werden deshalb Gedankenanstöße gegeben und neuere wissenschaftliche Studien zitiert, die nahelegen, dass wir bislang ein beträchtliches Potenzial bei der Kälberaufzucht in punkto Langzeiteffekte »links« liegen lassen. Kälber von Mutterkühen saugen oft sieben und mehr Monate an ihrer Mutter. Spätestens mit dem Trockenstellen zur nächsten Kalbung verweigert dann aber auch die »geduldigste« Mutter ihrem aktuellen Kalb und Zögling den Zugang zu ihrem Euter. Und das natürlich aus gutem Grund, denn die nächste Generation muss einen optimalen Start erwischen, und alle Energie darauf gerichtet werden.
Wie viel Milch für das Kalb?
Wie lange aber sollte im Gegensatz zu Fleischkälbern es den Milchviehkälbern wirtschaftlich erlaubt sein, in den Genuss von Vollmilch bzw. Milchaustauscher zu kommen? Hierauf versuchten vor allem US-amerikanische Forschungseinrichtungen seit den 1980er-Jahren Antworten zu geben. Das Ergebnis ist beeindruckend: Man konnte nach sieben bis acht Wochen und Einsatz von nur eineinhalb Sack Milchaustauscher (40 kg) ein Kalb »entwöhnen« und zum Wiederkäuer machen. Scheinbar auch sehr erfolgreich, denn die Kälber gaben als Kühe auch richtig gut Milch. Warum sollte man von daher an dieser Praxis zweifeln und rütteln?
Nun, Nachhaltigkeit als eines der zentralen Zukunftsmaßstäbe ist insbesondere in Europa erst seit ein paar wenigen Jahren in den Fokus gerückt, aber seither muss sich nahezu alles dieser Forderung unterordnen. Zeitgleich hat zudem eine hyperkritische Verbraucherschaft den Begriff der »Turbo- bzw. Wegwerfkuh« erschaffen und beklagt sich, dass Kühe selten nur drei und mehr Laktationen durchhalten. Seitdem ist man mehr und mehr bereit und auch geneigt, zu schauen, wie weit sich die industrielle Milchproduktion von der Natur entfernt hat. Für die Kälberaufzucht bedeutet das, dass man sich mehr und mehr kritisch auch mit dem wiederkäuerforcierten Kurztränkeregime auseinandersetzte und feststellte, dass eine längere und intensivere Tränke nicht nur zu höheren Milchleistungen führte, sondern auch zu mehr Gesundheit und Lebenszeit. Wie ist das zu erklären?
Die Gene beeinflussen
Ein zentraler Mechanismus mag in der »metabolischen Programmierung« liegen, bei der man mithilfe der Fütterung in den ersten Lebenswochen die Wirkungsweise von Genen positiv beeinflussen kann. Die Biestmilch hat dabei eine »Katalysatorfunktion«. Alleine über eine optimale Erstkolostrumversorgung lassen sich mehr als 1 000 kg Milch in der ersten Laktation erzielen. Darüber hinaus ist der Zusammenhang von Tränke, Zunahmen und Milchleistung bis in die dritte Laktation wissenschaftlich sehr gut herausgestellt. Als Faustformel gilt: Pro 1 g höhere Tageszunahmen vor dem Absetzen produzieren Färsen später 2 l mehr Milch in der ersten Laktation.
Ein Langzeitfütterungsversuch der Firma Trouw Nutrition, mittlerweile im siebten Jahr und in der vierten Laktation angekommen, zeigt darüber hinaus eindrucksvoll, wie Kälber, die mit 8 l statt mit 4 l bis zum 56. Lebenstag gefüttert wurden, länger als Kühe produktiv sind. Während in der 4-l-Gruppe nur noch gut ein Drittel der Kühe im Bestand sind, sind es bei der 8-l-Gruppe noch deutlich mehr als die Hälfte. Und das bei einem Versuch, wo man beide Gruppen früh absetzte. Dieser Versuch zeigt auf der einen Seite, wie sich eine intensivere Tränkeintensität auf Gesundheit und Leistungsbereitschaft auszahlt. Warum scheint aber auch die Tränkedauer und insbesondere das Abtränken so wichtig zu sein?
Speziell mit dieser Fragestellung hat sich eine Arbeitsgruppe der Uni Hohenheim um Prof. Korinna Huber aktuell beschäftigt. Sie verglichen in einer Studie nebeneinander »Kurztränke sieben Wochen« mit 17-wöchiger »Langtränke«. Viele gemessene Blutparameter waren signifikant unterschiedlich: So hatten die schnell entwöhnten Kälber z.B. permanent zu niedrige Glukose- und Insulinspiegel nach dem Absetzen und normalisierten sich erst ab dem 100. Lebenstag. Die Leptinspiegel dagegen waren auch nach dem Ende des Beobachtungszeitraums von 140 Tagen noch niedriger als bei den erst mit 17 Wochen abgesetzten Kälbern. Schaut man sich die Funktion von Leptin an, so ist speziell dieses Hormon nicht nur für den Energie- und Fettstoffwechsel wichtig, sondern auch entscheidend beim Immunsystem beteiligt. Es sieht also ganz danach aus, dass wir durch zeitliche und energetische »Einsparungen« in der Tränkephase Programmierungen in der umgekehrten Richtung vornehmen, die die Kälber mit zunehmendem Alter weniger resilienter und widerstandsfähiger werden lassen.
Rückschritt in der Entwicklung
Kurzgetränkte Kälber fallen nach acht Wochen in ein ausgeprägtes »Energieloch«, für das sie weitere sieben bis acht Wochen benötigen, um wieder auf den Ausgangsenergie-Status zu kommen. Zudem befinden sich derart aufgezogene Kälber häufig in einer latenten »Pansenazidose«. Das wirft die Kälber etliche Wochen in ihrer Entwicklung zurück und macht sie anfälliger gegenüber Infektionen nach dem Absetzen wie z.B. Kokzidien. Eine aktuelle Studie aus Griechenland hat dazu passend herausgefunden, dass Kälber, die zum Absetzen keine Pansenazidose hatten, auch die besten Gewichtszunahmen und Blutparameter aufwiesen. Eine weitere Beobachtung, die uns auch von der Natur und den Mutterkuhkälbern bekannt vorkommt.
Und noch eine Studie legt nahe, dass wir bei geringerer Milch- und Energiemengen-Fütterung ein beträchtliches Potenzial liegen lassen: Forscher von der Universität Guelph verglichen den Heilungsprozess nach Enthornung mittels Lötkolben. 80 Kälber wurden per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt – die eine Gruppe mit dem typischen nordamerikanischen limitierten Tränkeregime von max. 6 l pro Tag, während die andere Hälfte bis zu 15 l Milchaustauscher aufnehmen konnte. Die Wundheilung war viermal besser für intensiv gefütterte Kälber. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir bei limitiertem Tränkeregime einen Teil der physiologischen Stoffwechselleistung außer Acht lassen und speziell im Abwehr- und Immunsystembereich damit nicht genügend Ressourcen bereitstellen. Das dürfte bei uns auch ein Hauptgrund sein, warum eins von drei/vier Kälbern in der Aufzuchtphase Antibiotika bekommt. Darüber hinaus spielt sich aber auch ein Großteil der Krankenhistorie im »subklinischen« Bereich ab: So weiß man von Lungenultraschalluntersuchungen an Aufzuchtkälbern in den USA oder auch in Belgien, dass rund 25 % bis zum Absetzen einen irreparablen Lungenschaden aufweisen. Dieser stellt zwar nicht von vorneherein die Zuchttauglichkeit in Frage, wohl aber bedeutet bereits ein 1 cm großer »Lungenschatten« eine um fast 500 kg geringere Milchleistung in der ersten Laktation.
Zurück zum Vorbild Natur
Nach all dem neuen Wissen und der Aussicht auf Langlebigkeit im Sinne einer nachhaltigeren Milchproduktion sollten wir Kälber noch mehr nach Vorbild Mutter Natur tränken: Mit mehr Energie, aber auch erst frühestens mit 90/100 Tagen entwöhnen und zwar so schonend, dass die Kälber das am besten gar nicht erst mitbekommen. Dann haben wir die gesündesten und robustesten Kälber, die wir haben wollen und an denen wir sehr lange Spaß haben werden!
Mein Praxisvorschlag zum Tränkeplan stammt von der Neumühle, Dr. Christian Koch hat ihn bereits 2017 sehr prägnant herausgearbeitet. Dabei fällt auf, dass die Abtränkephase mindestens so lang ist wie die eigentliche Tränkephase. Die Kunst liegt damit wahrscheinlich in dem Bemühen, dass Kälber garnicht merken sollen, dass sie abgetränkt werden und sich so stressfrei und unbeschwert zum Widerkäuer entwickeln dürfen.
Dr. Peter Zieger