Azidose beim Kalb – Mythos oder Realität?

5. Februar 2024

Azidose bei Kälbern ist seit einigen Jahrzehnten ein stark unterschätztes Problem in der Rinderhaltung. Das Frühentwöhnen bei noch nicht vollständig ausgereiftem Pansen scheint die Hauptursache hiefür zu sein. Wir beleuchten neueste Studien und stellen fest: Azidosen beim Kalb zeigen viele Ähnlichkeiten mit dem Krankheitsbild bei der Kuh.

Azidose ist meist ein Einzelfall, kann aber auch eine ganze Gruppe betreffen. Foto: Zieger

Von Azidose sprechen Wissenschaftler, wenn der pH-Wert des Pansens über mind. fünf Stunden täglich unter einen Wert von 5,8 fällt. Bei Kühen geht man generell davon aus, dass rund 20 % der Kühe sich permanent in einer Pansenazidose befinden und dass dies im Einzefall mit fast 400 EUR eine der kostspieligsten Erkrankungen bei hochleistenden Milchkühen darstellt.

Bei Kälbern gibt es eine Reihe von Studien, die den pH-Wert-Verlauf im Pansen während der Aufzuchtphase messen konnten. Bislang war man sich jedoch nicht ganz sicher, welche kurz- und langfristigen Auswirkungen eine solche Azidose haben könnte? Prof. Vazquez-Flores von der Universität Monterrey konnte zusammen mit der Universität UC Davis in Kalifornien allerdings in den letzten Jahren die meisten klinischen Erkenntnisse dazu sammeln: Azidotische Kälber reagieren ähnlich wie erwachsene Kühe. Sie fallen unter anderem durch ihr struppiges Haarkleid auf, leiden meist unter Durchfall, sind unruhig und nervös, abgemagert und bleiben mit dem Wachstum hinter den anderen Kälbern zurück. Langzeitauswirkungen sind zu befürchten, konnten aber bislang noch nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Symptome einer Azidose

Die Tiere können als Ausdruck einer Pansenazidose Zähneknirschen zeigen, sich mit den Hinterbeinen gegen den Bauch schlagen oder die Flanke ablecken. Das deutlichste Symptom ist allerdings die Entzündung des sogenannten »Koronarbandes« oder »Kronsaums« am Unterfuß: Der Übergangsbereich zwischen Klaue und Haut ist stark gerötet, geschwollen und druckempfindlich. Neben Entzündungserscheinungen kann die Verdauung erheblich gestört sein. Durchfall wird häufiger beobachtet, beim Kotsieben fallen Schleimhautfetzen aus dem Dickdarmbereich auf und es finden sich im Labor unverdaute Getreidekörner und Stärke im Kot.

Das Vormagensystem erreicht beim Kalb erst ab der 16. Lebenswoche mit ca. 87 % die relativen Größenverhältnisse wie beim erwachsenen Rind. Das bedeutet, dass die gesamten Vormägen bis dahin nicht vollständig ausgereift sind. Ein Mutterkuhkalb, das bis zum Absetzen mit sieben bis acht Monaten oder sogar später bei der Mutter säugt, hat dagegen am Ende einen vollständig ausgereiften und funktionsfähigen Magen-Darm-Trakt. Deshalb ist das natürliche Absetzen, außer oder neben dem sozialen Stress für das Kalb, mit keinerlei pathologischen Auswirkungen verbunden. Ganz anders hingegen die Situation beim Frühabsetzen mit bisweilen schon ab sechs Wochen, wie es vor allen Dingen in Nordamerika propagiert wird.

Frühes Festfutter führt zur Wachstumsdepression

Die Kälber werden zur Aufnahme von Festfutter gezwungen, obwohl ihr Verdauungssystem, hier vor allem die Vormägen und der Pansen, noch nicht vollständig funktionsfähig und ausgereift ist. So führt das Absetzen in vielen Fällen zu einer Wachstumsdepression, die mehrere Wochen anhalten kann. Grund hierfür sind die kurzkettigen flüchtigen Fettsäuren, die im Pansen aus der Aufnahme von Kraftfutter und TMR entstehen und den pH-Wert im Pansen und im Dickdarm (Dickdarmazidose) absinken lassen. Es kommt zum Absterben von Pansenbakterien, hier vor allem der faserabbauenden Bakterien, die ihrerseits Endotoxine (vor allen Dingen Lipopolysaccharide – LPS) freisetzen. Die Pansen- und Darmwand, als fundamental wichtige erste physikalische Barrierefunktion im Immunsystem, mit ihrer empfindlichen Schleimschicht wird durchlässig (sogenannter »Leaky gut«) bzw. sogar geschädigt. Und so können die aufgenommenen LPS im Organismus starke Entzündungen auslösen. Im Blut steigen dann klassische Entzündungsmarker wie Haptoglobin oder Serum Amyloid A deutlich an. Das Immunsystem wird nun in allerhöchste Alarmbereitschaft versetzt, und beansprucht seinerseits für sich einen drei- bis vierfach höheren Nährstoffbedarf; diese Nährstoffe fehlen dem Kalb, es wächst schlechter und bleibt zurück. Die Entzündungen im Körper und in der Haut machen dem Tier zusehends zu schaffen: Es fühlt sich sichtlich unwohl und es fällt auf. Gleich mehrere aktuelle Studien zeigen nun eindeutig, dass Pansenazidosen erhebliche negative Folgen für Kälber haben können.

Eine Forschergruppe von der Pennstate Universität in den USA wollte eigentlich nur zwei verschiedene Konzentratfuttervarianten an jeweils fünf Bullenkälbern testen und verabreichten für 16 Wochen an eine Gruppe von Kälbern eine NDF-arme und sehr stärkereiche Festfuttermischung (42,7 % Stärke, 15,1 % NDF, 57,8 % NFC). Die Kontrollgruppe bekam hingegen eine gewöhnliche Mischung aus 35,3 % Stärke, 25,3 % NDF, 48,1 % NFC. Heu oder Silage wurde nicht angeboten.
Die Kälber hatten eine Pansenfistel, in der von der sechsten bis 16. Lebenswoche Pansensaft untersucht werden konnte.

Was die Forscher am meisten überraschte, war, dass alle Kälber über den gesamten Versuchszeitraum eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Pansenazidose zeigten (siehe Abbildung 1; Werte unter pH 5,8). Die Verlaufskurven zeigen den pH-Wochen-Mittelwert der gesamten zehnwöchigen Versuchsdauer in Bezug auf die Verabreichung des Kraftfutters an (Wert Null, X-Achse). Weitere Hinweise auf Pansenazidosen bei Kälbern konnte eine kanadische Forschergruppe beobachten, die nach der Frühentwöhnung viermal mehr Stärke im Kot nachweisen konnte, nachdem die Versuchskälber über mehrere Wochen einen Pansen-pH-Wert von unter 5,8 aufwiesen.

Azidose durch längeres Tränken verhindern

Darüber hinaus verändern Pansenazidosen die mikrobielle Vielfalt im Magen-Darm-Trakt und das sogenannte Mikrobiom im Darm, welches wichtige Funktionen in Hinblick auf das Immunsystem besitzt. Die sicherste und beste Methode besteht darin, dem Kalb einfach mehr Zeit zur Ausreifung des kompletten Magen-Darm-Traktes zu geben. Das bedeutet eine deutliche längere Tränkeperiode und eine schonendere, sanfte Abtränkephase über mehrere Wochen hinweg. So lässt sich sicher eine Azidose mit anschließender Wachstumsdepression nach dem Absetzen vermeiden. Die Kälber zeigen ein ungestörtes Wachstum und sind deutlich resilienter. Sie sind also weniger anfällig gegenüber Infektionskrankheiten. Fütterungstechnisch eignen sich sehr gut Hefekulturen, da sie die Entwicklung und das Wachstum von Pansen- und Darmzotten deutlich beschleunigen.

Zusätzlich verbessern die Hefekulturen die Futtereffizienz. Sie wirken aber auch sehr effektiv der »offenen« Pansen-/Darmwand, dem »Leaky Gut«-Syndrom entgegen. Man kann dies im Labor am elektrischen Widerstand der Darmwand messen. Ein hoher Widerstand bedeutet intakte Wand. »Stresst« man nun die Schleimhaut auf der Darminnenseite, so verringert sich der Widerstand um fast rund zwei Drittel. Sind dagegen Hefekultur-Metaboliten im Darm, verringert sich der elektische Widerstand nur um knapp 20 %. Dieser positive Effekt der stabileren Darmwand zeigt sich auch gegenüber infektiösen Durchfallerregern wie Kryptosporidien oder Bakterien.

Dr. Christian Koch
Dr. Peter Zieger

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