Mehr Milch durch Nachmelken?
Gesunde Euter sind für hohe Milchleistungen entscheidend. Stellschrauben gibt es in der Eutergesundheit viele. Welche Rolle dabei das Nachmelken spielt: Euterexperte und Melkberater Dr. Dirk Hömberg stand im Interview mit der Milchpur Rede und Antwort.
„Spätestens wenn das Abmelken geringer Milchmengen unverhältnismäßig lange dauert, ist der Schaden des intensiven Ausmelkens wegen der erhöhten Belastung des Zitzengewebes höher als der Nutzen. “
Milchpur: Eutergesundheit spielt in jedem Milchviehbetrieb eine bedeutende Rolle. Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle wie Hygiene beim Melken, Zitzenkondition, Melktechnik usw. Welchen Faktor erachten Sie als den Wichtigsten und warum?
Dr. Dirk Hömberg: Alle der genannten Faktoren sind gleichermaßen wichtig für die Eutergesundheit und zumin-dest indirekt auch für die Milchleistung. Mastitis wird zu Recht als »Multifaktorenkrankheit« bezeichnet. Im Umkehrschluss ruht eine dauerhaft gute Eutergesundheit auf drei großen Säulen:
1. bedarfsgerechte Nährstoff- und Wasserversorgung mit qualitativ einwandfreien Futtermitteln und Wasser von Trinkwasserqualität,
2. geringer Infektionsdruck sowohl im Stall als auch beim Melken
3. vollständiges und gleichzeitig gewebeschonendes Melken in regelmäßigen Intervallen.
Milchpur: Restmilch bzw. Nachgemelke sind Faktoren, die zu einer Verschlechterung der Eutergesundheit beitragen. Was ist der Unterschied zwischen Restmilch und Nachgemelk?
Dr. Dirk Hömberg: Tatsächlich gibt es keine verbindlichen Begriffe für Milch, die sich nach dem Melken evtl. noch in den Eutern befindet. Dennoch haben sich einige Bezeichnungen eingebürgert. So wird »Restmilch« als Oberbegriff für jegliche im Euter verbleibende Milch verwendet. Das können sowohl die bekannten »Nachgemelke« sein als auch sogenannte »Residualmilch«. Diese gebräuchliche Differenzierung bezieht sich darauf, an welcher Stelle der Euter sich nach dem Melken noch Milch befindet. Das kann zum einen das Drüsengewebe einschließlich der Milchgänge sein. Die dort evtl. noch vorhandene »Residualmilch« wird auch als »gebundene Restmilch« bezeichnet. Denn sie ist durch Kapillarkräfte in dem engen Gewebe fixiert und kann nur durch die Wirkung der Eutermuskulatur gewonnen werden. Zum anderen kann sich nach dem Melken in den Hohlräumen des Euters, den Zisternen, noch »lose Restmilch« befinden. Diese wurde zuvor zwar durch Muskeltätigkeit aus dem Drüsengewebe freigesetzt, kann aber nur durch Zug am Melkzeug und die damit verbundene Straffung des Eutergewebes, also durch »Nachmelken« gewonnen werden.
Milchpur: Warum und wie entstehen Nachgemelke? Kann ich diese verhindern?
Dr. Dirk Hömberg: Nachgemelke entstehen dadurch, dass sich bei nachlassender Euterfüllung am Euterboden innere Hautfalten bilden. Zunächst behindern diese nur den Abfluss der von oben noch langsam nachkommenden Milch. Jedoch werden in der Folge die Zitzen leer gemolken, so dass sie erschlaffen. Schließlich saugen sich die Melkbecher nach oben und schnüren die ohnehin schon eingeengte Zitzenbasis vollends ab. Das allgemein gefürchtete »Klettern der Melkbecher« ist also das Ende eines längeren Prozesses und nicht primäre Ursache loser Restmilch. Daher kann man Nachgemelke auch nicht verhindern. Aber man kann sie auf das unvermeidbare Maß begrenzen. Das wird im Wesentlichen durch die Euteranatomie bestimmt. Je faltiger das Eutergewebe mit zunehmendem Milchentzug werden kann, umso stärker ist die Gefahr großer Nachgemelke. So neigen Zweinutzungsrassen stärker zur Bildung von Nachgemelken als z.B. HF-Kühe. Genauso normal ist es, dass alte Kühe trotz einwandfreier Melktechnik und -routine Nachgemelke von ca. 1 kg aufweisen, obwohl die Nachgemelke in jungen Jahren mit 100 bis 200 g noch verschwindend gering waren.
Milchpur: Viele Betriebe wissen, dass ihre Kühe nicht ganz leer gemolken sind, wenn sie den Melkstand verlassen und nehmen dies in Kauf solange die Eutergesundheit nicht leidet. Ab welcher Menge an Nachgemelk leidet die Eutergesundheit?
Dr. Dirk Hömberg: Wie bei jeder Prävention gilt es auch in Bezug auf Restmilch zwischen einerseits den Gefahren und andererseits den Nebenwirkungen von Maßnahmen zu Risikominimierung abzuwägen. Zwar wirkt sich mangelndes Ausmelken generell negativ auf die Eutergesundheit aus. Denn mit jeglicher Restmilch verbleiben Nährstoffe und bei infizierten Eutern auch Krankheitserreger sowie deren Stoffwechselgifte in den Eutern. Dennoch ist es nicht notwendig und auch nicht ratsam, die Euter »bis auf den letzten Tropfen« auszumelken. Spätestens wenn das Abmelken geringer Milchmengen unverhältnismäßig lange dauert, ist der Schaden des intensiven Ausmelkens wegen der erhöhten Belastung des Zitzengewebes höher als der Nutzen. Hinzu kommen der hohe Arbeitszeitbedarf und die körperliche Belastung. Es gilt also, den am wenigsten schädlichen Kompromiss zwischen Melkdauer und Ausmelkgrad zu finden. Unter Berücksichtigung dieser Anforderung empfehlen die meisten Forscher, dass sich nach Abnahme der Melkzeuge im Euter nicht mehr als ca. 300 ml Restmilch befinden sollten. Da die Nachgemelksmengen von Kuh zu Kuh und im Laufe der Zeit variieren, ist es für die breite Praxis ein guter Kompromiss, sich beim Nachmelken auf die Kühe mit besonders ungünstiger Euteranatomie und/oder akuten Eutererkrankungen zu konzentrieren.
Milchpur: Kann durch Nachmelken die Milchleistung gesteigert werden?
Dr. Dirk Hömberg: Nachmelken wirkt sich tatsächlich positiv auf die Milchleistung aus. Insbesondere bei Kühen mit anatomisch bedingt hohen Mengen loser Restmilch ist Nachmelken eine von mehreren Voraussetzungen für das vollständige Ausschöpfen des Leistungspotenzials. Das wurde schon in den 1980er Jahren in mehrjährigen Großstudien nachgewiesen. Diese ergaben im Mittel von vier Laktationen bei einem Verzicht auf das Nachmelken statistisch signifikante Leistungseinbußen von 10 % bis 15 %, mit im Laufe der Zeit steigender Tendenz. Als Grund wurde in weiteren Studien ermittelt, dass das in den Eutern verbleibende Molkenprotein als sogenannter Alveoleninhibitor die Tätigkeit und die Anzahl der Milchbildungszellen beeinträchtigt. Im Umkehrschluss heißt das, dass Nachmelken sowohl die akute Milchsekretion als auch die Persistenz fördern kann.
Milchpur: Oft wird nicht nachgemolken, weil dies sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Wie melkt man fachgerecht und zeitsparend nach? Sollte das Euter zum Beispiel während des Nachmelkens massiert werden?
Dr. Dirk Hömberg: Um den Zeitbedarf für das verständlicherweise ungeliebte Nachmelken möglichst gering zu halten, sollten zunächst einmal Melktechnik und -routine so gestaltet werden, dass die Nachgemelke so gering sind, wie es die Euteranatomie ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist u.a. besonderer Wert zu legen auf:
1. zur Herde passende Zitzengummis
2. einwandfreie Melkzeugpositionierung (durch effektive Führung der langen Milchschläuche)
3. ein stabiles Zitzenvakuum in den Saugphasen (ca. 40 kPa bei hohen und geringen Milchflüssen)
4. einwandfrei funktionierende Pulsatoren
5. eine vollwertige Vorstimulation.
Weiterhin sollte man sich beim Nachmelken auf die Kühe konzentrieren, bei denen es wegen ungünstiger Euteranatomie bzw. akuter Eutererkrankungen besonders ratsam ist. Bei diesen sollte man die Melkzeuge hinunterziehen und somit das Eutergewebe straffen, sobald der Milchfluss gegen Ende des Melkens deutlich sichtbar abnimmt, wenn also z.B. im Sammelstück keine vollen Milchstrahlen mehr zu erkennen sind. Dabei ist ein Massieren der Euter zwar nicht generell notwendig, im Falle unförmiger bzw. geschädigter Euterviertel aber u.U. sinnvoll. Sobald der zwischenzeitlich wieder angestiegene Milchfluss erneut deutlich sichtbar abnimmt, sollte das Nachmelken beendet und das Melkzeug abgenommen werden. Denn langes Blindmelken (> ca. 10 Sek.) gilt es möglichst zu verhindern!
Milchpur: Viele Landwirte haben die Erfahrung gemacht, dass Kühe nach wiederholtem Nachmelken schwerer zu melken sind. Gibt es Gewöhnungseffekte durch Nachmelken?
Dr. Dirk Hömberg: Die Beobachtung der Praktiker ist zwar absolut richtig, nicht zutreffend ist jedoch die erwähnte Interpretation. Das zunehmend schlechte Milchabgabeverhalten zuvor nachgemolkener Kühe beruht nicht auf einem Gewöhnungseffekt. Wissenschaftliche Studien belegen zweifelsfrei, dass die Ursache, der im Laufe der Jahre steigenden Nachgemelkmengen im Erschlaffen der alternden Euter liegt.
Milchpur: Manche Kühe, die vor der Kalbung nachgemolken werden mussten, müssen es nach der Kalbung plötzlich nicht mehr; wie kommt das?
Dr. Dirk Hömberg: Auch hier liegt die Ursache des unterschiedlichen Milchabgabeverhaltens in der Euteranatomie. Diese ändert sich nicht nur langfristig, mit dem bekannten Trend zu stärkerem Erschlaffen alternder Euter. Es kann auch eine indirekte Abhängigkeit der Euteranatomie vom Lakta-tionsstadium geben. So ist es durchaus logisch, dass Euter bei geringen Tagesleistungen stärker zur Faltenbildung und somit zu Nachgemelken neigen als zu Beginn der folgenden Laktationsperiode, wenn sie noch prall gefüllt sind. Das ändert aber nichts an dem generellen Trend zu höheren Nachgemelken mit steigendem Lebensalter.
Milchpur: Sie schreiben auf Ihrer Website auch Hyperkeratosen einen wesentlichen Einfluss auf die Eutergesundheit zu. Was sind Hyperkeratosen und wie entstehen sie?
Dr. Dirk Hömberg: Hyperkeratosen sind übermäßigen Absonderungen der Strichkanalhornhaut. Sie zeigen sich als Hornhautringe an den Zitzenöffnungen und sind entgegen anderslautender Aussagen weder die normale Folge maschinellen Melkens noch unvermeidbar. Vielmehr werden Hyperkeratosen teils durch extreme Kälte, Rückstände von Reinigungsmitteln sowie austrocknende Dippmittel hervorgerufen. Meist liegt die Ursache solcher Schädigungen des Zitzengewebes jedoch in einer erhöhten Gewebebelastung durch zu aggressives Melken. Von besonderer negativer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang:
1. Blindmelken (Melken ohne Milchfluss)
2. eine übermäßig lange Melkdauer (oft auch durch zu geringes Zitzenvakuum in den Saugphasen)
3. ein zu hohes Vakuum in den Entlastungsphasen.
Im letztgenannten Fall bewirkt die ununterbrochene Saugwirkung eine permanente Längs-dehnung der Zitzen und das Anschwellen der Zitzenspitzen trotz Massage. Beides hat eine er-höhte Druckempfindlichkeit der Zitzen zur Folge. Gleichzeitig üben die Zitzengummischäfte einen starken Massagedruck auf die Zitzen aus. Letztlich wird so die Verhärtung der Zitzen-kuppen und die Bildung von Hyperkeratosen insbesondere bei empfindlichen (dünnen) Zitzen stark gefördert.
Milchpur: Warum sind sie so schädlich für die Eutergesundheit?
Dr. Dirk Hömberg: Hyperkeratosen verhindern, dass sich die Zitzen nach dem Melken vollständig schließen. Dadurch haben es Krankheitserreger leicht, in die Euter einzudringen und dort Entzündungen auszulösen. Durch diese massive Schwächung der Infektionsbarrieren steigern schon leichte und mittelmäßige Hyperkeratosen das Mastitisrisiko um 20 bis 40 %! Hinzu kommt, dass die Strichkanäle durch die abgesonderte Hornhaut verengt werden. Die dadurch „erworbene Schwermelkigkeit“ bewirkt wiederum ein verlangsamtes Melken mit entsprechend hohen Eutergewebebelastungen und Restmilchmengen. Letztere beeinträchtigen wiederum ihrerseits die Eutergesundheit unmittelbar.
Milchpur: Können sich bereits geschädigte Zitzen wieder erholen? Und wenn ja, wie trage ich dazu bei?
Dr. Dirk Hömberg: Schäden des Zitzengewebes, wie z.B. Hyperkeratosen und Verhärtungen der Kuppen, bilden sich tatsächlich in der Regel wieder zurück, wenn die Ursachen ihrer Entstehung nicht mehr vorliegen. So ist es üblich, dass Zitzen, die zu Ende einer Laktationsperiode nicht extrem starke Hyperkeratosen aufwiesen, nach dem folgenden Trockenstehen zunächst frei von diesen Gewebeschäden sind. Spätestens 8 bis 12 Wochen nach Beginn der neuen Laktation sind dann aber meist wieder Hornhautringe an den Zitzenöffnungen zu erkennen. Das belegt dann nicht nur, dass Schäden des Zitzengewebes bis zu einem gewissen Grad reversibel sind, son-dern auch, dass ihre Ursachen oft in zu aggressivem Melken liegen.
Herr Dr. Hömberg, vielen Dank für Ihre Antworten. Gibt es noch etwas, das sie den Landwirten mit auf den Weg, zu einer besseren Eutergesundheit, geben wollen?
Dr. Dirk Hömberg: Wie bei allen Krankheiten, sind auch bei Mastitis die Zusammenhänge komplex. Daher gibt es weder einfache Lösungen noch „die Ursache“ für hohe Zellzahlen und Euterentzündungen. Der Weg zu einer dauerhaft besseren Eutergesundheit beginnt daher stets mit einer umfassenden Analyse der drei großen Einflussbereiche Melken, Hygiene, Nährstoff- und Wasserversorgung. Dabei festgestellte Mängel sind zügig und vollständig zu beseitigen, um den Weg für eine anschließende Herdentherapie zu ebnen. Keine Aussicht auf dauerhaften Erfolg hat es hingegen, zunächst nur einzelne Maßnahmen zu ergreifen, dann auf deren vermeintlichen Teilerfolg zu warten, um dann evtl. mit der Mangelbeseitigung fortzufahren. Meist wird bei einer solchen Strategie der Erfolg an sich richtiger Einzelmaßnahmen durch das Fortbestehen anderer Fehler verhindert.
Das Interview führte Magdalena Zintl